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Aktuelles

Betreuerfachtag nimmt Alter der Gefühle in den Blick


Ein hochinteressanter Fachvortrag, eine Fülle weiterer wichtiger Informationen und zwei richtig gute Nachrichten – das war, grob zusammengefasst, der diesjährige Betreuerfachtag der Stiftung Scheuern.

„Nach sage und schreibe anderthalb Jahren Warten haben wir von der Schiedsstelle des Sozialministeriums die Nachricht erhalten, dass wir unsere Vergütungssatzforderungen am 15. November verhandeln dürfen“, teilte Bernd Feix, pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern, in seiner Begrüßung mit und fügte hinzu: „Wir dürfen davon ausgehen, dass wir nach dem 15. November zu einem Ergebnis kommen, das es erlaubt, mehr Personal einzustellen.“

Und die zweite gute Nachricht? Sie drehte sich um die beiden seit geraumer Zeit geplanten Wohnhäuser für insgesamt 48 Menschen mit Behinderung in Lahnstein und Nassau, für die das Land Ende September grünes Licht gegeben hat. In Nassau sei man bereits seit 2014 im Gespräch mit einem Investor, verdeutlichte Feix die Beharrlichkeit und fügte, auch mit Blick auf die nun möglichen Vergütungssatzverhandlungen, hinzu: „Das sind wirkliche Meilensteine, auf die wir sehr lange gewartet haben.“

Meilensteine, über die sich auch der Betreuerrat der Stiftung Scheuern freut: „Es ist kein Geheimnis, dass wir das wachsende dezentrale Wohnangebot mit einem lachenden und einem besorgten Auge sehen“, sagte dessen Vorsitzende Dr. Elisabeth Schmitt: „Lachend, weil wir uns für die dezentral wohnenden Menschen freuen, die eine größere Selbstständigkeit genießen können. Und besorgt, weil wir befürchtet haben, dass die im Zentralbereich lebenden Menschen als Folge der Dezentralisierung personell nicht mehr ausreichend versorgt sein könnten. Doch diese Befürchtung hat sich jetzt dank der bevorstehenden Vergütungssatzverhandlungen deutlich entspannt.“

Was hat sich sonst noch getan seit dem letzten Betreuerfachtag vor elf Monaten? Neben der Eröffnung des neuen Wohnhauses in Montabaur und der Einweihung des Mühlbachparks gehört dazu zweifellos die Wahl der neuen Bewohnervertretungen. Mit Betonung auf “Bewohnervertretungen“: Erstmals wurde dem neuen Bundesteilhabegesetz entsprechend für jede Einrichtung der Stiftung Scheuern eine eigene Bewohnervertretung gewählt. Näheres dazu erläuterte Christa Schienmann den rund 100 Teilnehmenden des Betreuerfachtags. Dazu informierten Florin Abel als Vorsitzender des Werkstattrats und Merle Bethcke als stellvertretende Frauenbeauftragte über die wichtige Arbeit ihrer Gremien.

Judith Bechstedt, Fachbereichsleiterin Wohnen, wiederum ging unter anderem auf die Entwicklung eines neuen Wohnangebots ein, das bei der von Sabrina Wittig moderierten Veranstaltung noch nicht zur Sprache gekommen war. „Auf dem Stiftungsgelände hat die konkrete Planungsphase für einen Neubau mit insgesamt 48 Wohnplätzen begonnen. „Er ist erforderlich, um Sanierungen in anderen Wohnhäusern zu ermöglichen“, erklärte sie.  

Rundum Positives wusste Werkstattleiter Matthias Behnke aus dem Arbeitsbereich zu berichten. Die Planstellen in den Werkstätten seien alle besetzt, die Auftragsauslastung sei gut und die Entlohnung für die Beschäftigten habe sich stufenweise erhöht, teilte er mit und ging nicht zuletzt auch auf die Digitalisierung in den Werkstätten ein: „Das war und ist ein ganz großes Thema bei uns.“ Sandra Gratzkowski, Leiterin des Förderbereichs 2 der Tagesförderstätte, wiederum erwähnte  unter anderem den Bezug von neuen Räumlichkeiten in der Werkstatt Langauer Mühle sowie die Themen Autismus und Demenz als zwei neue Schwerpunkte der Tafö-Arbeit.  

Dann war er gekommen, der Zeitpunkt für den mit Spannung erwarteten Fachvortrag. Für ihn zeichnete dieses Mal der heilpädagogisch-psychologisch Fachdienst der Stiftung Scheuern verantwortlich, dessen Arbeit Svenja Schwarz-Bremer, die Leiterin der Stabsstelle Individualisierte Dienstleistungen/Case Management/Psychologischer Fachdienst, zunächst kurz vorgestellt wurde. „Der Schwerpunkt liegt zunehmend darauf, bei der Übersetzung des Verhaltens von Menschen mit Behinderung zu unterstützen“, so Schwarz-Bremer. Genau darum ging es auch in dem Vortrag, den Christian Kubczigk und Irina Walta zum Thema „Das Alter der Gefühle“ hielten. Im Mittelpunkt: das sogenannte SEO-Modell. Hinter den drei Buchstaben verbirgt sich ein Instrument, mit dessen Hilfe sich das emotionale Entwicklungsalter ermitteln lässt. Denn dieses kann teils erheblich von dem durch medizinische Untersuchungen feststellbaren biologischen Entwicklungsalter (körperliche Verfassung) und dem mit Intelligenztests messbaren kognitiven Entwicklungsalter (intellektuelle Fertigkeiten) abweichen. „Es ist durchaus möglich, dass sich ein 50-Jähriger auf dem emotionalen Entwicklungsstand eines Vierjährigen befindet. Das hat zur Folge, dass sein Verhalten als völlig unangemessen empfunden wird“, verdeutlichte Christian Kubczigk.

Wichtig zu wissen: Auch Menschen mit geistiger Behinderung durchlaufen – allerdings in den meisten Fällen verzögert oder unvollständig – die sechs emotionalen Entwicklungsphasen, zwischen denen das SEO-Modell unterscheidet und die von der Adaptation (Geburt bis 6. Lebensmonat) bis zur sozialen Autonomie (13. bis 18. Lebensjahr) reichen. „Für jede dieser Entwicklungsphasen sind bestimmte grundlegende Bedürfnisse typisch, deren Befriedigung eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass es zu einer emotionalen Weiterentwicklung kommen kann“, betonte Christian Kubczigk: „Werden sie nicht befriedigt, resultieren daraus als problematisch empfundene Verhaltensweisen.“ Menschen mit geistiger Behinderung könnten ihren Betreuern nicht oder nur eingeschränkt mitteilen, was sie benötigen, so der Referent: „Deshalb müssen wir stellvertretend für sie ihr Verhalten in Bedarfe übersetzen, damit wir sie besser verstehen und begleiten können.“

Diesem Zweck dient insbesondere das aus dem SEO-Modell hervorgegangene Diagnose-Instrument SEED, das hilft, Menschen mit geistiger Behinderung einem der sechs emotionalen Entwicklungsphasen zuzuordnen. „Dabei füllen Personen aus möglichst allen Lebensbereichen des Betreffenden, also zum Beispiel Familienangehörige, Bezugsbetreuer und Bezugspersonen aus dem Arbeitsbereich, einen Fragebogen aus, der insgesamt 240 Items zum Umgang mit dem eignen Körper, der Affektregulation und sechs weiteren Entwicklungsdomänen umfasst“, erklärte Irina Walta, die den zweiten Teil des Vortrags hielt, und betonte: „Mit SEO und SEED bewegen wir uns auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaft. Das ist der Goldstandard, etwas Besseres gibt es derzeit nicht.“ Es sei sehr fortschrittlich von der Stiftung Scheuern, dass ihr psychologischer Fachdienst mit diesem Modell arbeiten könne, fügte Christian Kubczigk hinzu. Die Psychologin Dr. Allmuth Bober, die bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand in der Stiftung tätig war, hat es dort vor einigen Jahren eingeführt.

Was bedeutet das alles für den Arbeitsalltag mit den Klienten? „Das gesamte Setting der Betreuung muss dem emotionalen Entwicklungsstand angepasst werden, um das Wohlbefinden des Klienten positiv zu beeinflussen und seine Weiterentwicklung zu ermöglichen“, so Irina Walta. Und: Nicht zuletzt hilft die Kenntnis des Entwicklungsstands, besser mit konkreten Situationen umzugehen, und ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgversprechende Behandlungsstrategie.