Fahnen mit Logo der Stiftung Scheuern und dortiger Dienstleistungen der Behindertenhilfe.
»Alles Wissenswerte. Neues aus dem Alltag, von Veranstaltungen, über Fortbildungen und BTHG bis hin zum Mittagessen.«
Aktuelles

Gedenkfahrt nach Hadamar: Damit der Mensch den Menschen achtet


Vor Kurzem brachen 14 Personen von der Stiftung Scheuern aus zu einer Gedenkfahrt in die frühere Tötungsanstalt Hadamar nach Limburg. Dazu hatten Matthias Metzmacher, Pfarrer für Gesellschaftliche Verantwortung im Dekanat Nassauer Land, und die Stiftung Scheuern gemeinsam eingeladen.

 „Wir wollen an diejenigen erinnern, die damals ermordet wurden, aber auch fragen, wie wir heute mit behinderten, kranken und hilfsbedürftigen Menschen umgehen“, stieg Pfarrer Matthias Metzmacher, Pfarrer für Gesellschaftliche Verantwortung im Dekanat Nassauer Land, in die Hadamar-Gedenkfahrt ein. Und damit in eine Veranstaltung, die bereits zum vierten Mal in Zusammenarbeit mit der Stiftung Scheuern stattfand. Am dortigen Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen trafen sich die Teilnehmer, um zu erfahren, was es mit dieser vor 16 Jahren vom Künstler Christian Rudolph errichteten Skulptur auf sich hat – ihrem wie hingeworfene Blätter aussehenden „alten“ Teil, in dessen rostige Stahlplatten Auszüge aus Briefen von in der Tötungsanstalt Hadamar  ermordeten Bewohnern der damaligen Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern eingemeißelt sind, und ihrem aus blankem, unbeschriebenem Edelstahl bestehenden „neuen“ Teil, der in Form zweier aufrecht stehender Buchdeckel gestaltet ist. „An uns liegt es, neue Zeilen darauf zu schreiben“, sagte Pfarrer Gerd Biesgen, Vorstand der Stiftung Scheuern.

Eindringlich schilderten Metzmacher und Biesgen bei der anschließenden thematischen Einführung die Unmenschlichkeit, mit der die NS-Verbrecher  Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung als „unnütze Esser“ oder „Ballastexistenzen“ abstempelten. Berichteten von der Unbarmherzigkeit, mit der sie von der Tiergartenstraße 4 in Berlin aus die systematische Ermordung  von insgesamt mehr als 70 000 Menschen steuerten und unter anderem die Heime Scheuern zu einer Zwischenanstalt umfunktionieren: Von hier aus wurden über 1500 Menschen vor allem in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht.  Zusätzliche Plastizität erhielten die Geschehnisse von damals durch eine Zeitzeugin: Die heute 81-jährige Lore Arnold, eine Bewohnerin der Stiftung Scheuern, erlebte als Kind mit, wie die grauen Busse der Gemeinnützigen Krankenhaustransportgesellschaft (Gekrat) in Scheuern ankamen und die auf den Tötungslisten stehenden Menschen abholten. „Wer nicht laufen konnte, wurde hineingetragen“, berichtete sie. Und: „Manchmal träume ich heute noch davon.“ Alles längst Vergangenheit? Ja und nein. „Ich glaube, dass wir heute in einer stabilen Demokratie leben“, sagte Gerd Biesgen. „Allerdings geben manche Politiker Erschreckendes, etwa über Flüchtlinge, von sich. Und eine Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2012 hat ergeben, dass die Aussage ,Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich auf Dauer keine Gesellschaft leisten‘ in der Bevölkerung auf eine hohe Zustimmung stößt. Was ist das für eine Gesellschaft, die den Wert von Menschen daran misst, wie leistungsstark sie sind?“

Es gilt, aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart zu ziehen – das wurde auch bei der Führung in Hadamar sehr deutlich. Birgit Sucke, ehrenamtliche Mitarbeiterin der dortigen Gedenkstätte, schilderte in ebenso bedrückender wie beeindruckender Weise, wie in den Jahren 1941 bis 1945 hier insgesamt rund 15 000 Menschen ermordet wurden. Veranschaulichte anhand von Zeitdokumenten die kranke Ideologie der Nationalsozialisten – darunter auch der sogenannte Euthanasieerlass, mit dem Adolf Hitler 1939 bestimmte Ärzte dazu ermächtigte, behinderte und unheilbar kranke Menschen umzubringen.

Eine wichtige Station der Führungen in Hadamar ist die Busgarage. „Wenn die Verantwortlichen in Scheuern ihre Todeslisten voll hatten, haben sie in Hadamar angerufen. Dann sind die Busse losgefahren und ein paar Stunden später mit zugezogenen Vorhängen zurückgekommen“, sagte Birgit Sucke. „Damit niemand sehen konnte, wer hier aussteigt, hat man die Menschen über einen Schleusengang ins Haus gebracht.“ Ob die Todeskandidaten gewusst hätten, was auf sie zukommt, wollte Jürgen Unkelbach, einer der Teilnehmer, wissen. „Manche hatten sicher eine Ahnung“, erwiderte Birgit Sucke. Aber: „Mit am schlimmsten war sicherlich, dass man alles ablaufen ließ, als ob es ganz normal sei.“ Was sogar für die Gaskammer im Keller des Gebäudes, eine weitere Station der Führung, gilt. Wie man den gerade erst Angekommen vormachte, sie müssten nur zum Duschen; wie auf zwölf Quadratmetern 50 Menschen zusammengepfercht wurden, während, für sie unsichtbar, hinter einem Holzverschlag ein Arzt stand, der den Gashahn aufdrehte und sie an Kohlenmonoxid ersticken ließ; wie man die Angehörigen belog, indem man eine frei erfundene Todesursache in die Sterbeurkunde eintrug und den Friedhofsämtern eine Urne schickte, die irgendeine oder überhaupt keine Asche enthielt – all diese grauenhaften Details rückten im Keller der früheren Tötungsanstalt erschreckend nahe. „Wie können Menschen anderen Menschen so etwas antun?“, lautete eine naheliegende Frage. „Das kann ich Ihnen nicht beantworten“, brachte Birgit Sucke das Unfassbare zum Ausdruck.

Immerhin: Nachdem sich Bischof Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 in einer Predigt vehement gegen die Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens gewendet hatte, das Morden also öffentlich wurde, stoppte Hitler wenige Tage später die sogenannte T4-Aktion. Was für die in Hadamar begangenen Verbrechen allerdings nur eine Pause bedeutete: Wie die Nationalsozialisten dort in der zweiten Mordphase von August 1942 bis Kriegsende Menschen mit Behinderung, aber zum Beispiel auch Zwangsarbeiter, jüdische Mitbürger und in den Kriegswirren psychisch erkrankte Wehrmachtssoldaten mit gezielter Mangelernährung oder Vergiftung durch Medikamentenüberdosierung umbrachten, schilderte Birgit Sucke in der abschließenden Gesprächsrunde. „Ich wünsche uns, dass es uns immer gelingen möge, die Achtung vor anderen Menschen zu bewahren“, sagte sie. „Denn wenn Menschen diese Achtung verlieren, sind sie zu allem fähig.“