Zehn Jahre Integra und damit zehn Jahre spezialisierte Angebote für Menschen mit erworbener Hirnschädigung (MeH) – logisch, dass das einen Rückblick wert war. Vor mehr als zehn Jahren habe man ihn gefragt, ob solche spezialisierten Angebote für Menschen mit erworbener Hirnschädigung überhaupt dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen würden, stieg Bernd Feix, pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern ins Geschehen ein. Doch der enorme Bedarf an solchen Angeboten habe seinen Mitstreitern und ihm Recht gegeben. Denn für Menschen, die – beispielsweise nach einem Unfall, Schlaganfall oder einer Hirntumorerkrankung – an einer erworbenen Hirnschädigung leiden, besteht nach Abschluss der medizinischen Rehabilitation eine deutliche Versorgungslücke. „Wir wissen inzwischen, dass durch gezielte, spezialisierte und interdisziplinär abgestimmte Förderangebote weitere Entwicklungsschritte bezüglich der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft möglich sind“, so Feix, der von der Rehagruppe bis hin zu spezialisierten Wohnangeboten wie dem Bad Emser Elmar-Cappi-Haus, vor dem die Jubiläumsfeier stattfand, anschaulich auf die verschiedenen Entwicklungsschritte einging und eine mehr als beeindruckende Bilanz zog: „Derzeit begleitet der Fachbereich mit seinen differenzierten Angeboten insgesamt 62 Menschen. Und seit 2009 haben, insbesondere auch durch die Vielzahl an Beratungsgesprächen, über 500 Menschen unsere Dienste in Anspruch genommen.“
Beeindruckt zeigte sich auch Landrat Frank Puchtler. „Für die betroffenen Menschen verändert sich innerhalb von Minuten, manchmal aufgrund einer kleinen Unachtsamkeit, das komplette Leben“, verdeutlichte er in seinem Grußwort und fügte hinzu: „Ich bin dankbar, dass Sie diesen Menschen die Möglichkeit bieten, wieder am Leben teilzuhaben, und bitte um Verständnis, wenn manches aus verordnungstechnischen Gründen nicht so schnell geht, wie es wünschenswert wäre.“
Mit Spannung erwartet: der Vortrag von Dr. Paul Reuther, der sich seit vielen Jahren für die Belange von Menschen mit erworbener Hirnschädigung einsetzt, bis zu seinem Ruhestand das von ihm gegründete Zentrum für Rehabilitation, Eingliederung und Nachsorge gGmbH Neurologische Therapie RheinAhr leitete und sich heute mit seiner fachlichen Kompetenz in das neu gegründete Medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) in Neuwied einbringt. „Mit dem Fachbereich Integra ist etwas entstanden, was es bundesweit nur sehr selten gibt“, betonte der Neurologe. Das sei umso gravierender, als jährlich pro 1 Million Menschen 800 bis 1000 schwerbetroffene MeH nach Abschluss der medizinischen Reha eine weitergehende Versorgung bräuchten, so Dr. Reuther: „Das entspricht ungefähr einem Prozent der Bevölkerung.“ Da bei MeH mit dem Gehirn das zentrale Steuerungsorgan des Menschen betroffen sei, müsse die Versorgung eine andere sein als beispielsweise nach einem Herzinfarkt oder nach dem Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks, betonte er: „Die Krankenkassen tun sich wahnsinnig schwer damit, das zu akzeptieren.“ Und noch etwas: „Von erworbener Hirnschädigung Betroffene befinden sich in einer gänzlich anderen Situation als von Geburt an behinderte Menschen. Da sie sich daran erinnern, wie es früher war, erleben sie beim Übergang von ihrem ersten zum zweiten Leben große Konflikte.“ Die gute Nachricht bei alledem: Anders als noch vor 20 oder 30 Jahren wisse man heute, dass sich ein geschädigtes Gehirn teilweise wieder erholen könne: „Wenn ein Weg versperrt ist, kann das Gehirn dank der Verknüpfung der Hirnzellen einen anderen finden“, beschrieb er das Phänomen der Neuroplastizität. Voraussetzung für eine gelingende Reha sei allerdings, den Betreffenden aus der Depression herauszuholen und sich zugleich seiner körperlichen wie mentalen Minderbelastbarkeit und Erschöpfbarkeit bewusst zu sein: „Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Ursache dieser Minderbelastbarkeit eine organische Störung ist, die sich nicht durch Willensanstrengung kompensieren lässt. Für die Angehörigen ist das oft ein Problem.“ Auf lange Sicht seien es weniger körperliche als vielmehr kognitive und emotionale Probleme, die die Betroffenen besonders belasten, betonte Dr. Reuther, der auf den nach wie vor „riesigen Bedarf“ an spezialisierten Fachleuten hinwies und sich überzeugt zeigte: „Unser Land braucht viele Integras.“
Perspektivwechsel: Nach einer Pause, in der sich die Besucher an verschiedenen Ständen über die Angebote von Integra und seiner Kooperationspartner informieren konnten, kündigte Integra-Fachbereichsleiter und Moderator Thomas Schumacher Antonia von Reden an, eine junge Frau, die sich vor zehn Jahren bei einem Sturz ein schweres Schädelhirntrauma zugezogen hat. „Ich habe vier Jahre gebraucht, bis ich wieder selbstständig war“, fasste sie die Zeit danach zusammen – was bereits erahnen lässt, dass sie sich stets aktiv mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt hat. „Ich hatte große Ziele und habe sie in vielen kleinen Schritten erreicht“, so die Referentin, die von ihrer Schwester Carolin von Reden begleitet wurde. Zu diesen Schritten gehörte es zum Beispiel, nach Abschluss der neurologischen Reha in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, aber auch, die zur Verfügung stehenden therapeutischen Angebote zu nutzen. Wobei die junge Frau das eine oder andere mit Schalk im Nacken kommentierte. „In der Ergotherapie mussten wir so komische Taschen weben“, erzählte sie. „Die haben da schon zuhauf herumgehangen. Deshalb habe ich lieber am Computer gearbeitet.“ Ein ganz entscheidender Schritt bestand darin, das vor dem Unfall bereits weit vorangeschrittene Design-Studium abzuschließen: „Ich habe mir in Köln eine Neuropsychologin gesucht und gemeinsam mit ihr eine Strategie entwickelt, wie ich das Diplom schaffen kann“, erzählte sie und brachte damit implizit eine Tatkraft zum Ausdruck, deren Wurzeln sie folgendermaßen beschrieb: „Ich merke, dass ich nicht so wahnsinnig viel Energie habe. Deshalb verplempere ich sie lieber nicht mit depressiven Zuständen, sondern konzentriere mich auf die Fortschritte.“ Heute arbeitet sie mit einem Umfang von 25 Wochenstunden im Tourismus-Marketing.
Obwohl sie sehr gut mit ihrem Schicksal leben könne, habe sie noch immer mit Beeinträchtigungen zu kämpfen, so Antonia von Reden: „Nicht zuletzt mit unsichtbaren Beeinträchtigungen wie einer schnell nachlassenden Konzentrationsfähigkeit, die sehr leicht in eine Überforderung münden kann.“ Apropos unsichtbare oder für Außenstehende nur schwer als solche erkennbare Beeinträchtigungen: Antonia von Reden entwickelte einen speziellen Button, der diese nach außen sichtbar macht und beispielsweise verdeutlicht, dass eine bestimmte Person, die schwankend geht, nicht betrunken, sondern eben behindert ist. Denn, so die Referentin: „Sehr viele Menschen sind auf der einen Seite verunsichert, auf der anderen aber auch sehr hilfsbereit und dankbar für Kommunikation.“