Einzig in Montabaur sei die Anmoderation noch besser gewesen, stieg Rainer Schmidt in seinen Nassauer Auftritt ein: „Dort hat es ja auch eine Frau gemacht. Sie hat meine Fähigkeiten und Erfolge dermaßen in den Vordergrund gestellt, dass ich dachte: Einer lügt – entweder die Moderatorin oder mein Schwerbehindertenausweis.“
Man ahnt es schon: Erfrischend direkt und mit bodenständigem Humor gesegnet, voller Selbstironie statt Moralinsäure kam er daher, dieser Kabarettist, den die Stiftung Scheuern am Vorabend ihres Jahresfestes auf die Bühne der Stadthalle gebeten hatte. Wobei das auf die Eintrittskarten gedruckte Versprechen „Garantiert ohne erhobenen Zeigefinger“ natürlich mehr als nur im abstrakten Sinn zu verstehen war: 1964 ohne Unterarme zur Welt gekommen, funktionierte der Kleinkünstler seine Behinderung zur Steilvorlage für zwei Stunden voller hintergründigem Nonsens, witzig-spritziger Pointen, aber auch pointierter Einsichten in das Thema Inklusion um. Um das Außergewöhnlich-Sein drehe sich sein Programm „Däumchen drehen“, kündigte Rainer Schmidt an. Und das selbstverständlich strikt an der Wahrheit orientiert: „Ich bin Pfarrer und darf nicht lügen. Na gut, manche Geschichten sind vielleicht nicht genauso passiert. Aber als rheinischer Pfarrer genieße ich schließlich gewisse Freiheiten.“
Wobei aller Schalk im Nacken nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass die Geschichte des Außergewöhnlich-Seins auch eine Geschichte der Diskriminierung ist.Sei es entwürdigend wie bei jener Sportlerehrung, wo jemand befand: „Deine Mami ist bestimmt stolz auf dich“ (Antwort: „Ja, und meine Kinder erst!“). Sei es gedankenlos wie an der Hotelrezeption, wo ihm ein Mitarbeiter vorschlug, den Meldezettel mit einem Kringel zu unterschreiben („Warum ‚Kringel‘? Ich ändere meinen Namen jetzt nicht!“). Oder sei es nett gemeint, aber trotzdem daneben wie bei jener Dame, die ihm anbot, am Büffet zu helfen, und dann einfach nach eigenem Gutdünken seinen Teller volllud („Ich bin nur an den Armen, nicht aber am Willen behindert und kann sehr gut selbst entscheiden, was ich essen will“).
Das eigentliche Problem, das sogenannte Nicht-Behinderte mit Behinderten hätten, sei die Verunsicherung, betonte Schmidt, der für sich drei Gegenstrategien entwickelt hat: 1. ungebremst drauflosreden, 2. Behindertenwitze reißen, 3. Handschuhe anziehen, die es dem Gegenüber leichter machen, jemandem die Hand geben zu wollen, der gar keine hat.
Vor allem von der ersten Strategie machte Schmidt auch in Nassau reichlich Gebrauch: Im rheinischen Schnellsprech-Stakkato ließ er Pointe auf Pointe, witziges Bonmot auf flapsigen Gag, ernste Nachdenklichkeit auf schlitzohrigen Schabernack folgen. Sauste teils wie ein Flummi über die Bühne, ahmte gesten- und mimikreich die unsichtbaren Akteure seines Programms nach – und bezog, wie es sich für einen Kabarettisten gehört, immer wieder auch das Publikum mit ein. Zum Beispiel, als es um die grundlegende Frage „Was ist das eigentlich, eine Behinderung?“ ging. Eine Einschränkung bestimmter Fähigkeiten? „Was kann ich nicht, weil ich keine Hände habe?“, forderte Schmidt seine Zuhörer heraus. „Na, einen Handstand machen“, kam es vorwitzig zurück – was dem Kabarettisten als Initialzündung für eine Retourkutsche aber gerade recht kam. Kaum überraschend, dass bei der Frage „Wer von Ihnen kann keinen Handstand?“ so gut wie alle Finger nach oben schnellten. Da war das im Chor gesprochene Bekenntnis „Ich kann keinen Handstand. Ich bin behindert“ nur noch ein kleiner, folgerichtiger Schritt entfernt.
„Die Einteilung in die Kategorien ,behindert‘ und ,nicht behindert‘ könnte das Übel überhaupt sein. Denn diese Einteilung gibt es in der Bibel nicht. Dort wird nur zwischen Gott und den Menschen unterschieden“, so die Moral von der Geschicht‘ – und einer jener Momente, in denen der Kabarettist Rainer Schmidt das Wort an den gleichnamigen Pfarrer und Referenten übergab. Phasenweise verschwammen die Grenzen ohnehin: Eben noch mit locker-flockigen Sprüchen à la „Wenn ich gefragt werde, wie ich eigentlich Kaffee koche, antworte ich: meistens mit der Kaffeemaschine“ unterwegs, ließ Schmidt jede Ironie beiseite, wenn es an den Kern der Sache ging: „Inklusion bedeutet nicht zuletzt, dass jeder Mensch einen zweiten Blick verdient hat“, definierte er. Und: „Am besten geht es mir mit meinem besonderen Aussehen, wenn sich die anderen so weit an mich gewöhnt haben, dass es völlig normal für sie geworden ist.“
Eine Selbstverständlichkeit, von der sich die Realität meist Lichtjahre weit entfernt bewegt. Was den Umgang mit behinderten Menschen betrifft, macht Schmidt im Wesentlichen zwei Verhaltenstypen aus: jene, die in demonstrativem Mitleid baden, und jene anderen, die so tun, als ob das alles gar kein Problem sei. Die Wahrheit liegt, wie kaum anders zu erwarten, zwischen diesen Polen. „Ja, Behinderung ist eine Belastung“, räumte Rainer Schmidt ein. „Aber es ist nicht das Drama, das andere Menschen sehen.“ Und noch etwas, wo es gerade um das Thema Teilhabe geht: „Um behinderte Menschen kümmern sich viele. Aber für Hartz-IV-Empfänger, die mindestens genauso von der Gesellschaft ausgegrenzt sind, ist keiner da.“
Klingt fast so, als sei es über weite Strecken eher eine Podiums- als eine Kabarettveranstaltung gewesen. War aber nicht so, im Gegenteil: Von solchen in ernster Eindringlichkeit gehaltenen Passagen schlug Rainer Schmidt immer wieder elegant den Bogen zum Witzig-Spritzigen, Grotesken, Urkomischen. Etwa bei der „Königsdisziplin“, in die man dann aufgestiegen sei, wenn man anfange, die eigene Behinderung zu genießen: „Ich habe dem Polizisten gegenüber zugegeben, dass ich ihm auf meine Weise den Mittelfinger gezeigt habe“, flunkerte Schmidt. „Was sollte er auch groß machen? Mir Handschellen anlegen vielleicht?“ Ein vergnüglicher, nachdenklicher, erfrischender Abend.