Dieser Bruder ist in mehrfacher Weise schwer beeinträchtigt. Er lebt seit mehr als 50 Jahren in der Stiftung Scheuern, wird dort liebevoll „der Baron“ genannt und steht im Mittelpunkt des rund 140 Seiten umfassenden Buchs. Er sitzt in seinem Rollstuhl in der ersten Reihe, als Hans Bartosch zunächst aus gemeinsamen Kindheitstagen liest. Rolf begleitet das Geschehen mit ständigem Lautieren, wie es seit jeher typisch für ihn ist. Menschen wie er, so muss man angesichts des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus sagen, hätten in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre in unserem Land kaum überlebt. In der NS-Zeit wurde sie gezielt ermordet oder bis zum Tod der Mangelversorgung preisgegeben.
„Böse, dunkle Zeiten gab es auch in unserer Einrichtung", sagt Pfarrer Gerd Biesgen, Theologischer Vorstand der Stiftung Scheuern, vor den mehr als 50 Gästen der Lesung. Von Scheuern aus wurden einst Menschen nach Hadamar in eine Tötungsanstalt gefahren, wo man sie umbrachte. Somit vereinen die Lesung und das anschließende Gedenken am Mahnmal kollektives und individuelles Erinnern, ebenso wie das Büchlein von Hans Bartosch, zu dem Gerd Biesgen ein Vorwort verfasst hat. Denn in Hans Bartoschs Werk spielt auch der geliebte Großvater eine Rolle. Der Opa, der ihm die Freude am Wandern vermittelt und einen Kompass vererbt hat, dessen Verstrickungen in den Nationalsozialismus aber auch "typisch für viele deutsche Familien ist", wie der Autor im Interview mit Gerd Biesgen sagt. Eine Verstrickung, die zu Lebzeiten des Großvaters totgeschwiegen und erst viel später dem schockierten Enkel nach und nach offenbar wurde.
Das Buch von Autor Hans Bartosch steckt voller "Aussagen, die oft sehr prägnant formuliert sind", wie Verleger Dr. Jens Heisterkamp sagt. Ihnen wohne ein „ganz eigener Sprachgeist“ inne und man sei als Leser eingeladen, Bartoschs Gedanken nachzugehen. Prägnant bedeutet auch ungeschönt. So hält Hans Bartosch nicht hinterm Berg damit, wie er als Kind manchmal gegenüber dem Bruder handgreiflich wurde – aus Überdruss, aber auch aus Neid oder Wut.
Mit großer Ehrlichkeit schreibt und spricht Hans Bartosch auch über die Stiftung Scheuern, die seit über einem halben Jahrhundert das Zuhause seines Bruders ist. "Glanz und Elend – ich habe hier schon beides gesehen", sagt der Autor. Er verschweigt nicht, dass es auch „unschöne Zeiten“ wie in den 1980er-Jahren gab, als Zwölf-Bett-Schlafsäle üblich waren, Zimmer schmucklos und der Betreuungsstil „sehr autoritär“. Doch Hans Bartosch stellt klar, dass die Situation heute eine ganz andere ist. „Die letzten Jahre sind sehr glanzvoll und das Betreuerteam von Rolf ist einfach wunderbar", sagt Bartosch. Gerd Biesgen zeigt sich froh über „konstruktive, in diesem Fall anerkennende Rückmeldungen und sagt: „Bei uns arbeiten viele Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben. Sie tun alles, was möglich ist, für die uns anvertrauten Menschen.“
Die Lesung berührt viele der Gäste. Darunter sind auch Menschen aus der Stiftung Scheuern, die Hans' Bruder Rolf persönlich kennen, ihn direkt betreuen oder in der Tagesförderstätte zu Gast haben. Erlebnisse mit dem Bruder im Duisburger Elternhaus, die zeitweise seltenen Besuche in Scheuern und die im fortgeschrittenen Alter wieder enger werdende Beziehung kommen zur Sprache. Rolf lautiert weiter unentwegt, aber bei mancher Begebenheit scheint er die Erinnerung seines vorlesenden Bruders ausdrücklich zu bekräftigen. Hans Bartosch geht jedes Mal auf dessen Äußerungen ein.
Am Ende des Buchs und der Lesung schildert der Autor, damals umgetrieben, ja aufgewühlt vom Tod des Vaters, von den Entdeckungen über den Großvater und eine Familienerbschaft, die mit SS-Bekanntschaften eines Onkels zusammenhängt, wie sein Bruder Rolf zu verstehen gibt: Komm, leg dich neben mich aufs Wasserbett. Komm runter und zur Ruhe. Eine solche Geste habe Rolf zuvor noch nie gezeigt. Zum ersten Mal begegnen sich die ungleichen Brüder auf Augenhöhe.
Hans Bartosch hat mittlerweile seinen Frieden mit dem Großvater gefunden. Ein Urteil abschließender Art, so bemerkt Pfarrer Gerd Biesgen, stehe uns Menschen ohnehin nicht an und sei einer höheren Macht vorbehalten. „Wer von uns kann die Hand dafür ins Feuer legen, wie er damals unter den herrschenden Bedingungen gehandelt hätte?", sagt er.
Das Publikum quittiert die Lesung mit langem Beifall und sieht bewegt, wie der Autor mit ausgebreiteten Armen auf seinen Bruder zugeht, ihn liebevoll in den Arm nimmt. Einen Bruder, dem man noch vor 80 Jahren in unserem Land das Recht zu leben abgesprochen hätte.
Das Buch von Hans Bartosch „Der Baron, mein Großvater und ich. Biografische Meditationen“ umfasst 144 Seiten und ist im Buchhandel zum Preis von 16 Euro erhältlich. Es ist im Info3-Verlag erschienen. ISBN 978-3-95779-195-5