Am Ende war dann doch noch die eine oder andere unterdrückte Träne zu erahnen. Verständlich, denn es ist wahrlich keine Kleinigkeit, nach mehr als sechs Jahrzehnten als Chorleiterin in den Ruhestand zu gehen. Doch Gisela Schönrock wäre nicht Gisela Schönrock, wenn sie ihre Wehmut nicht hinter ihrem trockenen Humor zu verbergen gewusst hätte. „Ich danke euch dafür, dass ihr mich bei den Chorreisen, die euch in mehr als 60 Städte und Gemeinden in ganz Deutschland geführt haben, mitgenommen habt“, sagte sie mit einem Augenzwinkern zu ihren Sängerinnen und Sängern. Sage und schreibe 62 Jahre lang hat die heute 86-Jährige den Chor der evangelischen Kirchengemeinde der Stiftung Scheuern geleitet – genauso lang, wie sie auch als Organistin der Kirchengemeinde im Dauereinsatz war. Jetzt wurde sie also in den Ruhestand verabschiedet – im Rahmen eines sehr ansprechend gestalteten Festgottesdienstes, an dem zahlreiche ihrer Weggefährten teilnahmen.
„Wir feiern heute, dass sich Gisela Schönrock die Lebensfreude hier in Scheuern zur Lebensaufgabe gemacht hat und dass sie uns auch heute inspiriert und berührt“, sagte Markus Fehlhaber, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde, mit Blick auf die Tatsache, dass Gisela Schönrock und ihr Chor, wie hätte es auch anders sein können, den Verabschiedungsgottesdienst mitgestalteten. Auch Pfarrer Gerd Biesgen, Vorstand der Stiftung Scheuern, dankte Gisela Schönrock von Herzen für ihren über so viele Jahre hinweg geleisteten engagierten Dienst, bei dem, wie er betonte, vieles im Verborgenen geschehen sei, und wünschte ihr „frischen Mut und heitere Gelassenheit auf dem weiteren Lebensweg“. Als äußeres Zeichen der Anerkennung erhielt Gisela Schönrock aus den Händen von Pfarrer Fehlhaber eine Dankesurkunde der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
Auch in seiner Predigt knüpfte der Geistliche an den außergewöhnlichen Anlass an. Eine Verabschiedung aus dem aktiven Dienst sei immer zugleich ein Appell an alle anderen, in den aktiven Dienst einzutreten, betonte er. „Die Welt braucht Menschen, die bereit sind zu heilen“, sagte Fehlhaber insbesondere mit Blick auf die Rolle der Diakonie in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung wie der Stiftung Scheuern und präzisierte: „Soweit sie es können.“ Denn in seiner Aussendungsrede habe Jesus den Jüngern aufgetragen, weder örtlich noch körperlich oder geistig über ihre Grenzen hinauszugehen: „Es ist wichtig, dass ich tue, was ich kann, aber es ist ebenso wichtig, dass ich den Rest in die Hände Gottes lege.“
Logisch, dass dieser besondere Gottesdienst nicht zu Ende ging, ohne dass einige Weggefährten Gisela Schönrocks persönliche Worte an die Beinahe-Ruheständlerin gerichtet hätten. So betonte Jörg-Peter Benz als Vertreter des Kirchengemeindevorstands, Gisela Schönrock habe die Menschen in der Stiftung immer wieder dazu motiviert, Neues auszuprobieren und Grenzen zu erweitern: „Dank Ihres Engagements wächst hier vieles, was ohne Sie nicht gewachsen wäre.“ Gemeinsam mit der Bewohnervertretung dankte natürlich auch der Chor seiner langjährigen Dirigentin von Herzen, hob ihre Eigenschaften hervor, zu denen unter anderem Bescheidenheit, Geduld und der respektvolle Umgang mit allen Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, gehören – und brachte als musikalisches Überraschungsgeschenk mit „Geh auf mein Herz, und suche Freud“ eines von Gisela Schönrocks Lieblingsliedern zu Gehör.
So verstand es jeder auf seine eigene Weise, der Feier eine persönliche Note hinzuzufügen. „Sie können sich nicht vorstellen, wie Sie mein Leben geprägt haben“, betonte Volker Fischer, ein Sohn von Pfarrer Bernhard Fischer, der die damaligen Heime Scheuern von 1963 bis 1987 leitete. „Sie haben lange, bevor man den Begriff überhaupt kannte, Inklusion gelebt“, fügte er hinzu. Dr. Elisabeth Schmitt, die Vorsitzende des Betreuerrats der Stiftung Scheuern, ging insbesondere auf das von Gisela Schönrock ins Leben gerufene und alljährlich mit dem Chor gestaltete Krippenspiel ein, das stets ein besonderer Höhepunkt in der Vorweihnachtszeit gewesen sei: „Eine Freundin meiner Mutter, die mit dem christlichen Glauben eigentlich nicht mehr viel im Sinn hatte, sagte sogar, das Krippenspiel habe ihr ein Stück Weihnachten zurückgegeben.“
Sehr viel Positives brachte Gisela Schönrocks Engagement also mit sich – aber auch die eine oder andere kleine Unannehmlichkeit, wie ihr Ehemann Karl-Heinz Schönrock zum Schluss noch mit einem Schmunzeln preisgab: „Unser gemeinsames Wochenende hat erst nach dem Gottesdienst angefangen, und selbst das sonntägliche Frühstück fiel immer ein bisschen knapp aus.“ Aber: „Ich habe es vor allem deshalb mitgetragen, weil sie es so gerne gemacht hat. Sie lebte darin und empfand es niemals nur als Dienst – und schon gar nicht als Job.“ Eine Begeisterung, die die frisch gebackene Ex-Chorleiterin selbst folgendermaßen formulierte: „Mein Mann hat von mir nie die Worte ‚Ich habe keine Lust, zum Gottesdienst oder zur Chorprobe zu gehen‘ gehört.“
Bleibt die Frage: Wer tritt in Gisela Schönrocks Fußstapfen? Um es kurz zu machen: Ein neuer Chorleiter ist momentan noch nicht in Sicht. Doch als Organistin wird sich dankenswerterweise ihre Tochter Petra Schönrock-Wenzel künftig in das Leben der evangelischen Kirchengemeinde und der Stiftung Scheuern einbringen.